Wie verhalten sich wirtschaftliche Interessen zu moralischen Werten? Darf man das Leben anderer riskieren, um sich selbst und seine Familie zu retten? Mit diesen und noch mehr Fragen beschäftigt sich das Theaterstück „Ein Volksfeind“ von Henrik Ibsen, das die Teilnehmer der unverbindlichen Übung „Literatur live“ am 20. Juni im Theater in der Josefstadt besuchten.
Der Kurarzt Dr. Stockmann entdeckt, dass das Heilwasser der geplanten Therme in seinem Heimatort verseucht ist, und sieht es als seine Pflicht, die für den Bau Zuständigen zu informieren. Was ihm aber als selbstverständlich und als einzig moralisch richtige Vorgehensweise vorkommt, sieht sein Bruder, der Bürgermeister, ganz anders: Die Therme soll den Ort weltberühmt machen und die wirtschaftliche Situation des kleinen Dorfes enorm verbessern, weshalb er auf Vertuschung setzt. Seine politische Machtposition nützt er zudem aus, um die örtliche Zeitung zu erpressen und davon abzuhalten, über die Wahrheit der Wasserqualität zu berichten. Als Arzt kann sich Dr. Stockmann aber nicht damit abfinden, die Leben vieler Menschen aufs Spiel zu setzen, und sieht nicht ein, dass es ein Problem wäre, den Bau erneut zu starten. Aus dem einst schüchternen Mann, der immer im Schatten seines politisch erfolgreichen Bruders gestanden ist, wird jemand, der mit Überzeugung für Aufklärung und seine Ideale kämpft und dafür sogar gesellschaftliche Ausschließung in Kauf nimmt – ein Volksfeind.
Der Kampf für besseres Wasser dreht sich um die Gesellschaft an sich. Darf man Leben für Geld opfern? Darf man die Wahrheit geheim halten, nur um selbst zu profitieren? Darf man die Presse manipulieren, um den Menschen eine vorgefertigte Meinung aufzudrängen? Als Zuschauer fragt man sich aber auch, ob Dr. Stockmann ab einem gewissen Punkt nicht zu weit gegangen ist: Er verliert seine Stelle, seine Frau wird gekündigt und sein Sohn wird in der Schule verprügelt. Darf man seine Familie für das allgemeine Wohl in Gefahr bringen? Das Stück macht auf gesellschaftliche Probleme aufmerksam und wirft viele Fragen auf, mit denen sich der Zuschauer auch noch lange nach dem Vorstellungsbesuch beschäftigt.
Emily Niesner, 5B